Aus der Reihe - „Lachende Literaten“ – David Kalisch - „Zerstreute Gedanken“ by joe-c-whisper

View this thread on steempeak.com
· @joe-c-whisper ·
$0.21
Aus der Reihe - „Lachende Literaten“ – David Kalisch - „Zerstreute Gedanken“
![Gedanken.png](https://steemitimages.com/DQmbc1iS8EEaPDmSggaERqLvagsMPHcshcsSAg7uN4QbiHi/Gedanken.png)

***

Werte Steemis,

aus der Reihe „Lachende Literaten“ und nach all der Schaffenskraft, die ich für euch leiste, muss ich mir eine kurze, erholsame Auszeit gönnen, damit ihr euch in dieser Zeit nicht langweilt, bekommt ihr selbstverständlich, ermunternden Lesestoff geboten. 

Heute für euch - David Kalisch „Zerstreute Gedanken“.

Kritik: ruht – wenn ich ruhe

***

### <center>David Kalisch</center> 

## <center>Zerstreute Gedanken</center>

***

Die Frauen haben zwei Hauptwaffen: – die Schönheit und die Zunge. Je mehr die erste an Glanz verliert, desto mehr gewinnt gewöhnlich die zweite an Schärfe.

In denjenigen Ländern, wo der Fürst das Scepter in einen Prügel umwandelt, da verwandeln die Stockknechte den Prügel gewöhnlich in ein Scepter.

Da bei vielen Menschen Geld und Verstand dasselbe ist, so wundere man sich nicht, daß so viele Menschen mit jenem auch diesen verlieren.

Ein Frauenherz und eine Festung sind sich auch darin ähnlich, daß man beide erst kennen lernt, nachdem man sie erobert.

Schöne und feine Hände regieren oft am strengsten und nachdrücklichsten. Elisabeth und Napoleon hatten sehr schöne Hände und suchten diese durchaus nicht zu verbergen.

Es ist ein wahrhaftes Unglück, mit einem allzuscharfen Geist die menschlichen Dinge zu durchschauen. Im klarsten Wasser entdecken wir durch Hülfe des Sonnenmikroskops Millionen häßlicher, scheußlicher Geschöpfe, und so entdeckt der scharfsinnige Menschenkenner selbst an der schönsten menschlichen Seele unzählige Laster und Gebrechen, die der gewöhnliche Mensch zu seinem Glücke nicht wahrnimmt.

Wenn Jemand auf dem Gipfel eines Berges steht, so werden ihm freilich die Menschen im Thale sehr klein erscheinen, allein nicht minder klein wird er diesen vorkommen. Und so muß man sich nicht wundern, daß große Männer, die eine bedeutende Höhe erreicht, von den Alltagsmenschen, die sich nicht zu erheben vermögen, als klein verschrieen werden.

Der Deutsche gleicht auch darin dem Faullenzer, daß er sich wie dieser oft deßhalb wecken läßt, um dann mit desto größerem Behagen wieder einschlafen zu können.

Man wundere sich nicht, daß große Menschen große Schwächen besitzen; der höchste Baum wurzelt ja am tiefsten in der Erde.

In folgender Beziehung verfahren wir mit dem Menschen wie die Polizei. Wir verstehen nämlich sehr selten unter Charakter die nach unerschütterlichen Grundsätzen befolgte Handlungsweise, sondern nur das Handwerk, das Gewerbe, das Besitzthum, so daß eigentlich der größte Gutsbesitzer den trefflichsten Charakter besitzt.–

Das Gold bleibt immer edel, wenn es auch noch so tief unter der Schlacke verborgen und die Schlacke bleibt immer gemein, wenn sie auch noch so dick vom Golde bedeckt ist.

Die Satyre gleicht dem Messer. Sie schmerzt weniger, wenn sie scharf, als wenn sie stumpf ist.

Der Tod ist ein kurzer Pfad, der von der Zeit zur Ewigkeit führt. Der Mensch soll sich zu diesem Pfade weder tollkühn drängen, noch ihm feighaft ausweichen.

Kleine Menschen steigen oft noch höher als große; aber diese gleichen den Adlern, die sich nur durch die Kraft ihrer eigenen Schwingen erheben, und jene den Drachen, die nur von dem Winde gehoben werden. Während jene frei und ungezügelt schweben, hängen diese an einem dünnen Faden, den ein muthwilliger Knabe nach Willkühr regiert.

Die Liebe gleicht der Natur. Sie fühlt sich nur reich, wenn sie gibt und je mehr sie gibt, desto reicher wird sie.

Im alten Hellas war es das Höchste für einen Sterblichen, in den olympischen oder pythischen Spielen mit dem Oel- oder Lorberzweig beglückt zu werden. Damals durfte man aber kein Lump sein, wenn man von dem ausgezeichnetesten Volk der Erde durch den Lorber ausgezeichnet werden wollte. Jetzt können sich Hunderte den Lorber in Töpfen ziehen und zur Schau vor's Fenster stellen. Es ist fast gar nicht mehr der Mühe werth, Ehrgeiz zu besitzen; ja, es ist so überaus leicht, Ruhm zu erlangen, daß man sich bald schämen wird, berühmt zu werden. Freilich, gibt es heut zu Tage selten einen Ruhm, der ein Recht auf die Blätter der Weltgeschichte hat; er verfliegt gewöhnlich mit den Blättern der Tagespresse. Diese Blätter schlagen auch oft den Ruhm an den Meistbietenden los und der Meistbietende erkauft ihn nicht einmal um einen hohen Preis. Aber so ist einmal unser Jahrhundert. Ueberall keuchende Hast, schnaufende Eile. Auch nach dem Tempel der Unsterblichkeit drängt man sich und zwar so eifrig, daß man gegenseitig sich fast die Rippen einstößt. Aber kaum hat ein Dutzend sein Ziel erreicht, so wird es von neuen Ankömmlingen wieder aus dem Tempel geworfen, bis auch die neuen wieder von den neuesten verdrängt werden und händeringend in's Meer der Vergessenheit stürzen. Am Ende wird der Ehrgeizige sich schon begnügen, wenn er, bei der ungeheuern Masse von Unsterblichkeitskandidaten, nur einen Monat lang unsterblich bleibt.

Prüde Frauen gleichen dem Glas, das zu den sprödesten Dingen gehört und eben deßhalb am zerbrechlichsten ist.

Die Menschen gleichen den Büchern nicht blos darin, daß sie die Censur passiren müssen, und daß die geistreichsten am schnellsten gebunden werden, sondern daß diejenigen am höchsten gestellt sind, die man am wenigsten braucht. Als Hauptsache bei diesen wie bei jenen betrachtet man gewöhnlich den Titel und hält es selten der Mühe werth in beiden zu lesen, wenn sie allzu ernst. Ungebildete Leute lieben gewöhnlich bei Menschen und Büchern mehr das Gold auf dem Rücken als im Herzen, so wie sie überhaupt die Prachtexemplare den schlichten vorziehen; und sehr viele reiche Leute sind von Büchern und Menschen umgeben, ohne diese wie jene zu verstehen und zu begreifen. –

Was die Luft für den Körper, das ist die Freiheit für den Geist. Wer mag aber behaupten, daß je ein Mensch durch Ueberfluß an Luft gestorben?

Es geht mit der Schmeichelei wie mit dem Konfekt. Wer zu viel von beiden genießt, wird am Ende krank; aber etwas davon bei einer besondern Gelegenheit genossen schmeckt sehr angenehm. Es gibt freilich sehr gesunde Mägen, die nichts anders als solide Speisen genießen wollen, und so gibt's auch sehr gesunde Menschen, die nur Wahrheiten selbst im Gewande des Tadels hören mögen; allein Damen, Künstler und Fürsten naschen gern.

Nur da, wo wahre Freiheit herrscht, nur da, wo jede Individualität sich naturgemäß zu entwickeln berechtigt ist: da nur kann der Geist in allen Formen seine Flügel entfalten. Im Orient, wo man von jeher gewohnt war, nur die untersten Kasten, aber nicht die Wahrheit nackt zu sehen; wo es unter den Menschen nur Herrscher oder Sklaven gab und wo man dem Kindlein in der Wiege schon seine Zukunft bestimmen konnte: da wurde der menschliche Geist dressirt und gezähmt und durfte sich weder höher noch tiefer wagen, als es der bevorzugten Kaste angenehm war. Es ist wahr, der Orient ist die Schule des Occidents; aber dieser lernte in derselben nur das A B C der Bildung und während er durch Selbstunterricht und ungehemmte Geistesentwicklung die höchste Stufe zu erreichen strebt, ist das Morgenland bei seinem Formelwesen stehen geblieben und es gibt heute in Asien eben so wenig ein eigentliches Volksthum, als es vor dreitausend Jahren gegeben.

Seit in Europa die Virtuosen wild wachsen; seit jeder Finger eines Klavierhelden für einen Finger Gottes gehalten und mit dem Schuh einer Tänzerin Fetischdienst getrieben wird: ist das Feld des Ruhmes zur Gemeindetrift geworden, auf welcher viele Wiederkäuer behaglich weiden können.

Wer im Dunkeln sich befindet, kann den im hellen Lichte Weilenden deutlich sehen, aber nicht umgekehrt. So kann auch der Unglückliche den Glücklichen, dieser aber niemals Jenen beurtheilen.

Die Deutschen haben das Schießpulver, das Lumpenpapier und die Buchdruckerkunst erfunden; aber nicht für sich, sondern für Andere. Der Deutsche gleicht dem Kameel. Alles, was in und an ihm ist, bringt der Welt großen Nutzen; aber er selbst ist verdammt auf die Kniee zu stürzen, um sich die schwersten Lasten aufbürden zu lassen. Der Deutsche ist überaus gründlich, so gründlich, daß ihm der ewige Urgrund noch etwas zu ergründen gibt. Der deutsche Geist geht in die Tiefe, der Geist des Franzosen, seines unruhigen Nachbars, geht in die Breite. Der Deutsche gleicht einem Bohrer; der französische Geist gleicht einer Hobel. Wo der französische Geist eine holperichte Stelle findet, fährt er glättend darüber hin und kommt vorwärts. Der Deutsche aber dringt mit seinem spitzen Geist immer tiefer ein, bleibt aber immer auf derselben Stelle. Er bohrt so lange in das volle Faß der Wissenschaft, bis der Wein ausläuft. Dann kommen die andern Völker und trinken sich satt, während er selbst im trockenen Holze steckt. Ein Deutscher war es auch, der die Uhren erfunden. Der Deutsche selbst gleicht vollkommen einer Uhre. Wie diese, kündigt er allen Anderen den Fortschritt der Zeit an; er selbst aber weiß nie was an der Zeit ist. Andere Nationen stecken ihn in die Tasche und ziehen ihn auf, und wenn die Kette durch den langen Gebrauch ein wenig lose wird, gibt man sie den diplomatischen Uhrmachern zur Reparatur. Die diplomatischen Uhrmacher verstehen ihr Handwerk sehr gut, besonders aber, wie man die Ketten fest und dauerhaft macht.

Nicht sehr oft hat die Natur in ihren Geschöpfen das Schöne mit dem Nützlichen vereint. Das nützlichste Thier, das Kameel, gehört zu den häßlichsten Thieren und der schöne Pfau ist ein unnützer Vogel. Der Buntspecht ist schöner als die süßflötende Nachtigall und der grausame Tiger ist schöner als der nützliche Ochs. Die Natur will uns dadurch wahrscheinlich die Lehre geben, daß man nicht Alles nach dem unmittelbaren Nutzen taxiren soll, daß das Schöne, welches uns erfreut und entzückt, sogar noch einen größeren Werth habe, als das Nützliche, welches uns nährt und kleidet. Nur ein Krämer wird alles auf der Käsewage abwägen und jedes Ding nach dem Vortheil schätzen, den es bringt.

Es ist nicht immer unsere Schuld, daß das Glück uns verachtet; aber es ist immer unsere Schuld, wenn wir das Unglück nicht verachten.

Ordinäre Menschen und Weine bedürfen der Etiquette, um mehr zu gelten als sie werth sind.

Der Deutsche zeichnet sich durch seine unbegrenzte Gutmüthigkeit aus. Der deutschen Gutmüthigkeit geht's wie der Weltgeschichte; sie nimmt mit jedem Tage zu und es ist wirklich erstaunlich, daß sie, die deutsche Gutmüthigkeit nämlich, nicht endlich im eigenen Fett erstickt. Der Deutsche hat ein Sprichwort: »Geduldige Schafe gehen viel in einen Stall.« Und in der That, Deutschland ist ein ungeheurer Stall von vielen tausend Quadratmeilen mit vielen Millionen geduldigen Schafen, in deren Wolle sich Engländer, Franzosen, Holländer und viele andere Völker warm zu kleiden wissen. Dem Deutschen ist die Geduld so sehr zur zweiten Natur geworden, daß es sein größtes Unglück ist, wenn er sich in einem unbegreiflichen Augenblick selbst vergißt und etwas ungeduldig wird. Es geht ihm wie jenem Bettler mit der Mücke. Ein Bettler lag träge an der Schwelle eines Hauses und ließ sich lange von einer frechen Mücke um die Nase tanzen, ohne sie nur durch die mindeste Bewegung abzuwehren. Endlich, endlich ward er überdrüßig, er patschte zu und – schlug sich die Nase wund, während die Mücke mit heiler Haut auf einen Augenblick davon flog und bald wieder die Nase belästigte. Wenn der Deutsche wirklich ein Mal losschlägt, so verwundet er nur sich selbst; aber von dem, was ihn belästigt, kann er nie frei werden, weil er weder die rechte Zeit, noch das passende Ziel zu treffen weiß.

Deutschland ist das Herz Europa's. Es verhält sich mit diesem Herzen wie mit dem menschlichen. Alle Glieder des Menschen sündigen meistens auf Kosten des Herzens, der Kopf, der Magen und die Gliedmaßen. Alle Länder Europa's sündigen auf Kosten Deutschlands. Wenn in England eine neue Maschine erfunden wird, gehen deutsche Fabriken zu Grunde, und wenn in Frankreich eine Emeute ausbricht, werden gegen die Deutschen harte Maßregeln ergriffen. –

Die Schönheit ist das Prachtgewand des sterblichen Menschen, so wie die Tugend das des unsterblichen ist.

Alles sieht der Mensch, nur nicht die Scholle Erde, auf der er steht, und unter allen Räthseln, die ihm das Leben aufgibt, ist er selbst das schwierigste. Alles hat der menschliche Geist ergründet und erforscht, bis auf das menschliche Herz, in dessen Tiefe, wie in der des Ozeans, die Perle neben dem Ungeheuer schlummert. Wie oft hören wir den scheinbar erprobtesten Menschenkenner sterbend ausrufen, daß auch er sich in seiner Kenntniß getäuscht, ja, daß er sich am meisten getäuscht, weil er es am wenigsten geglaubt! Und dennoch! Welches tiefere, welches fesselndere Studium gibt es für uns, als das des menschlichen Herzens? Ist und bleibt der Mensch nicht immer der Mittelpunkt, um welchen sich alles dreht, was er sieht, denkt und empfindet?

Die Frucht fällt nicht nur vom Baum, wenn sie reif, sondern auch wenn sie vom Wurm zernagt ist.

Fürsten können keine Freiheit geben; aber Völker können sie nehmen.

Der Verleumder weiß, daß die wenigsten Menschen sich dadurch höher zu stellen vermögen, indem sie wirklich höhere Stufen erklimmen, daß vielmehr die meisten Menschen dadurch an Werth zu gewinnen glauben, wenn ihre Nebenmenschen an Werth verlieren. Der Verleumder beginnt gewöhnlich mit einem Lob des zu Verleumdenden; er setzt ihm erst den Kranz auf, bevor er ihn opfert.

Es gibt Leute, die besonders von der Ruhmsucht stark gequält sind. Sie hungern und dursten und leben in den ärgsten Nöthen, blos des Ruhmes wegen. Manche sind hierin glücklich und fallen so zu sagen die Tempelstufen der Unsterblichkeit hinauf. Manchem aber geht es leider mit dem Ruhm, wie es den Kindern mit dem Himmel geht. Diese glauben gewöhnlich, daß er in einiger Entfernung die Erde berührt. Sie laufen keuchend darauf zu, um ihn zu erhaschen und werden erst später gewahr, daß es nur eine optische Täuschung ist. Jemehr sich der Horizont jener Unglücklichen erweitert, desto ferner wird ihnen die Aussicht des gewünschten Zieles und so wird ihr Leben tausendfach von ihnen getödtet, damit sie nur nach dem Tode bei ihren Mitmenschen fortleben. Diese Mitmenschen aber sind sehr sonderbar. Nicht das Ordentliche zieht sie an, sondern das Außerordentliche. Sie glauben nicht einmal den Göttern, wenn diese nicht einige Taschenspielerkünste produziren. Sie wollen überrascht werden. Käme einst ein dunkelblauer Esel zur Welt, er würde bei den Menschen mehr Bewunderung erregen, als Sonne, Mond und Sterne. Wie bald würden sich aber diese ruhmsüchtigen Menschen von der Nichtigkeit ihres Strebens überzeugen, wenn sie bedenken, daß es fast keine Bestie gibt, der man nicht schon auf Erden göttliche Ehre erwiesen. Ochsen, Kühe und Kälber sind schon als Gottheiten in prächtigen Tempeln verehrt worden.

Drei Gewalten kennen keinen Unterschied des Standes: die Liebe, die Noth und der Tod.

So lange die Frauen in den ihnen angewiesenen Kreisen beharren, erleuchten und erwärmen sie ihre ganze Umgebung; sobald sie aber aus diesem Kreise treten, können sie höchstens blenden und verzehren, aber kein frisches Leben schaffen. Eine Frau, die ihren Beruf erfüllt, wird immer gefallen; eine Frau, die immer gefallen will, wird ihren Beruf nie erfüllen. Die Herrschaft einer Frau ist immer eine rechtmäßige, wenn sie durch ihr Herz den Kopf des Mannes lenkt; will sie aber das Herz des Mannes durch ihren Kopf beherrschen, so ist dies eine Despotie, welche zu gewaltigen Revolutionen führt.

Die Langeweile ist der Schatten der Ewigkeit.

Die Freude hat ihre Thränen so gut wie der Schmerz; nur die Hartherzigkeit und die Verzweiflung haben keine.

Es liegt nicht an der Sonne, daß auf der Erde Nacht und Winter, sondern an der Erde, die sich von der Sonne abwendet und entfernt. Das Unglück kommt nie von Gott, sondern von den Menschen, die das Glück zerstören. Wie leicht wäre es doch besonders für diejenigen, welchen das Geschick der Völker anvertraut, das Wohl derselben zu fördern! Ist es nicht viel leichter, mit milder Hand als mit eherner Sohle zu regieren? Ist es nicht ruhmvoller, Menschen zu lenken als über Sklaven zu herrschen? Und doch sehen wir fast täglich, daß Männer, deren Herz für Wahrheit und Gerechtigkeit schlägt, zu Märtyrern werden müssen, weil die Wahrheit selten da gelitten wird, wo sie am ersten gefunden werden sollte und weil die Gerechtigkeit in unseren Tagen wohl blind und mit dem Schwerte bewaffnet, aber leider sehr oft ohne Wage ist.

Ein Heller in eine leere Büchse geworfen macht mehr Geräusch, als ein Goldstück in eine volle.

Ich saß vor einiger Zeit an der Wirthstafel in Wiesbaden. Mein vis-à-vis bildeten drei Männer von sehr verschiedenem Aeußern. Einer von ihnen, ein Engländer, war so dürr wie der Schatten einer Mumie und hieb so weltbeherrschend in das Rindfleisch, als hätte er den irdischen Appetit erfunden. Er sprach nur sehr wenig; jedes Wort aber, das er sprach, war ein Befehl, ein Befehl für den unglücklichen Kellner, der nicht genug Beine für den Sohn Albions haben konnte. An der linken Seite des Engländers saß die unermüdliche Geschwätzigkeit in Gestalt eines dicken muntern Franzosen. Jeder Bissen, den er zu sich nahm, war von einer pikanten Bemerkung, von einem leichtsinnigen Witz, von einem frivolen bon mot begleitet. Er lieferte sich auf diese Weise seine eigene Würze zu den Speisen. Derjenige aber, der an der linken Seite des Franzosen saß, hatte ein breites, gutmüthiges Gesicht, in dessen Zügen geschrieben stand: »Hier ruht die Ergebung in den göttlichen Willen.« Dieser Mann mit dem breiten Gesicht sprach kein einzig Wort und aß sehr wenig, weil erst die Schüssel an ihn kam, nachdem England und Frankreich den unermüdlichen Appetit gestillt. Der gute Mensch betrachtete immer die Schüssel, wenn sie an ihn gelangte, wie ein gefühlvoller Mensch ein kaum geräumtes Schlachtfeld betrachtet, nämlich stumm und seufzend. Ich bewunderte das Kleeblatt im höchsten Grade. Ich bewunderte den Engländer wegen seiner ungeheueren Freß-Capazität und glaubte endlich, er sei gar kein Mensch, sondern ein personifizirter Magen. Noch mehr aber bewunderte ich den Franzosen, der trotz seiner sprudelnden Laune und seiner Heiterkeit nicht wenig in den Saucen und Ragouts wüthete. Aß er nur, um von seinen Witzen auszuruhen, oder wollte er nur durch seine Witze die Aufmerksamkeit von seiner Eßlust abziehen? Wer weiß! Am meisten aber bewunderte ich den Mann mit dem breiten Gesichte, das so glatt und brach da lag, wie ein ungeackertes Weizenfeld. Er sprach nicht und äußerte durch nichts seine Unzufriedenheit über seine Nachbaren, die ihn gar nicht berücksichtigten und ihn mit leeren Verbeugungen und Tellern abspeisten. Nun kam der Pudding. Ein Gefühl süßen Heimwehes bemächtigte sich des Engländers, als er die überzuckerte Erfindung seines Vaterlandes auf der Schüssel rauchen sah. Der Pudding lag da, herrlich wie die Weltkugel. Mit mächtigem Löffel fuhr der Engländer hinein und – die ganze östliche Hemisphäre lag rauchend auf seinem Teller. Der Franzose war artig genug, nicht die ganze westliche Hemisphäre zu occupiren, sondern ließ eine kleine Pudding-Insel für seinen stillen, ergebungsvollen Nachbar. Ich empfand wirklich eine innige Freude, als ich sah, wie der stille Mann das kleine Besitzthum, das er nach langem Hoffen und Harren endlich durch französisches Mitleid erhielt, auf seinen Teller legte. Er faßt die Gabel, bringt einen Bissen zum Munde und findet, daß der Pudding noch heißer als seine Sehnsucht nach demselben. Ruhig legt er die Gabel wieder hin und wartet, bis der Gegenstand seiner Sehnsucht ein wenig erkaltet. Er wartet – er wartet – da kommt der Kellner und nimmt den Teller fort und der Arme sitzt da und blickt schweigend auf das bleiche Tischtuch. An diesem letzten Unglück erkannte ich meinen Pappenheimer. »Sagen Sie,« flüsterte ich dem Kellner zu, »ist dieser stille Mann da drüben nicht ein Deutscher?« »Sie entschuldigen,« erwiederte der Kellner, »ein Hannoveraner.«

***

<center>ENDE</center>

***

Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/buch/schlagschatten-7108/26

***

*Joe C. Whisper*
👍  , , , , , , , , ,
properties (23)
post_id44,807,625
authorjoe-c-whisper
permlinkaus-der-reihe-lachende-literaten-david-kalisch-zerstreute-gedanken
categorydeutsch
json_metadata"{"links": ["http://gutenberg.spiegel.de/buch/schlagschatten-7108/26"], "format": "markdown", "app": "steemit/0.1", "image": ["https://steemitimages.com/DQmbc1iS8EEaPDmSggaERqLvagsMPHcshcsSAg7uN4QbiHi/Gedanken.png"], "tags": ["deutsch", "bildung", "soziales", "kalisch"]}"
created2018-04-22 09:18:54
last_update2018-04-22 09:18:54
depth0
children1
net_rshares31,927,089,146
last_payout2018-04-29 09:18:54
cashout_time1969-12-31 23:59:59
total_payout_value0.182 SBD
curator_payout_value0.027 SBD
pending_payout_value0.000 SBD
promoted0.000 SBD
body_length20,091
author_reputation2,078,632,808,514
root_title"Aus der Reihe - „Lachende Literaten“ – David Kalisch - „Zerstreute Gedanken“"
beneficiaries[]
max_accepted_payout1,000,000.000 SBD
percent_steem_dollars10,000
author_curate_reward""
vote details (10)
@cheetah ·
Hi! I am a robot. I just upvoted you! I found similar content that readers might be interested in:
http://gutenberg.spiegel.de/buch/schlagschatten-7108/26
properties (22)
post_id44,807,654
authorcheetah
permlinkcheetah-re-joe-c-whisperaus-der-reihe-lachende-literaten-david-kalisch-zerstreute-gedanken
categorydeutsch
json_metadata{}
created2018-04-22 09:19:09
last_update2018-04-22 09:19:09
depth1
children0
net_rshares0
last_payout2018-04-29 09:19:09
cashout_time1969-12-31 23:59:59
total_payout_value0.000 SBD
curator_payout_value0.000 SBD
pending_payout_value0.000 SBD
promoted0.000 SBD
body_length154
author_reputation750,854,098,279,735
root_title"Aus der Reihe - „Lachende Literaten“ – David Kalisch - „Zerstreute Gedanken“"
beneficiaries[]
max_accepted_payout1,000,000.000 SBD
percent_steem_dollars10,000